Am 10. Mai ist es in Bremen wieder so weit, die Bürgerschaftswahl steht an. Sie prägt damit derzeit nicht nur den Lokalteil der hiesigen Zeitungen sondern auch das Straßenbild in Form zahlreicher Wahlplakate, Stellwände und Infostände.
Doch ebenso sichtbar ist, dass anscheinend eine große Ablehnung gegenüber den Wahlen besteht. Sie drückt sich zum Beispiel aktiv in der Zerstörung der Wahlplakate, aber auch passiv in dem Nicht-Wählen-Gehen vieler Leute aus. Warum die Menschen sich, sei es aktiv oder passiv, dem demokratischen Zirkus der Wahlen verweigern und was ihre konkrete Kritik daran ist, lässt sich anhand dieser Formen des Protests nicht beantworten.
Wie eine Kritik an Wahlen und damit an der parlamentarischen Demokratie aber aussehen kann, möchten wir mit dieser Flugschrift versuchen.
Inhaltsverzeichnis
Zur Wahl gehen ist eine staatsbürgerliche Pflicht. Zu bürgerlichen Rechten gehören auch bürgerliche Pflichten. Nur wer wählt darf sich auch beschweren!
In Deutschland ist es nicht per Gesetz verpflichtend, wählen zu gehen. Dennoch gibt es eine „moralische Pflicht“, mit der sich Menschen, die für sich entscheiden, ihre Stimme nicht abzugeben, konfrontiert sehen. Diese moralische Pflicht besagt, dass die Demokratie in der wir leben ein Gut sei, welches es zu schützen gelte. Wenn wir nun nicht wählen gehen, leisten wir nicht unseren Beitrag zur Aufrechterhaltung dieser Demokratie. Deshalb, so heißt es dann häufig, dürfen wir uns auch nicht beschweren über das, was schief läuft in diesem Land. Denn schließlich hätten wir ja alle paar Jahre die Möglichkeit, mit unserer Stimme etwas zu ändern.
Doch dem wollen wir widersprechen. Worum geht es überhaupt bei Wahlen? Geht es wirklich darum, die Probleme, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden, zu ändern, damit es den Menschen besser geht?
Wahlen sind die Art, wie in der Demokratie die Herrschaft gewährleistet werden soll.
Bei den Wahlen geht es darum, das Personal zu bestimmen, welches das Recht hat, über die in dieser Gesellschaft lebenden Menschen Macht ausüben zu dürfen. Dieses Personal selbst, also die Menschen, denen wir auf den Wahlzetteln unsere Stimme geben können, behauptet immer wieder, den Willen der Wähler*innen zu verfolgen. Doch welche Entscheidungen diese Menschen fällen, nachdem sie erfolgreich gewählt wurden, darauf haben die Wähler*innen letztlich gar keinen Einfluss mehr. Die Politik selbst steht also nicht zur Wahl. Sie ergibt sich aus festgeschriebenen und (neu) erlassenen Gesetzen, die sich unserem Einfluss gänzlich entziehen.
Zugleich legitimieren Wahlen auch diese Herrschaftsform, weshalb es ein Interesse seitens der Politik an einer hohen Wahlbeteiligung gibt. Das heißt, dass die Politiker*innen sich bestätigt fühlen in der Art wie sie Politik machen, wenn viele Menschen davon Gebrauch machen, am Wahltag ihr Kreuz irgendwo auf dem Zettel zu setzen.
„Wenn die „Richtigen“ an der Regierung wären, könnten sie alles besser machen. Die meisten Politiker*innen interessieren sich nur nicht für die Interessen der Leute.“
Diese Ansicht über die Politik bekommt man häufig zu hören. Viele Leute sehen ein Übel, sie erkennen also, dass viel falsch läuft in dieser Gesellschaft. Dies führen sie jedoch nicht darauf zurück, wie die Gesellschaft, in der wir leben, funktioniert. Sie geben die Schuld daran den Politker*innen, die in ihren Augen falsch handeln. Je nach politischer Ausrichtung der Kritisierenden handeln diese dann nur im Interesse der Banken, der ’’Gutmenschen’’ oder Lobbygruppen.
Doch der Staat ist kein Fahrrad, mit dem man beliebig irgendwo hinfahren kann.
Er hat nur sehr begrenzte Handlungsmöglichkeiten und dementsprechend können (und wollen) die Menschen, die das Regierungspersonal stellen, auch gar nichts grundlegend anderes mit ihm machen. Das einzige, was man mit dem Staat machen kann ist Herrschaft ausüben und damit die Gesellschaft organisieren. Und bei uns ist das eine Gesellschaft, die auf kapitalistischer und patriarchaler Ausbeutung basiert. Die Aufgabe des Staates ist es dabei, diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Dies macht er indem er die Rahmenbedingungen mit seinem Gewaltmonopol schützt und die Grundlage der Ausbeutung, das Privateigentum sichert. Das ist ein grundlegender Teil des Staatszwecks. Das bedeutet, dass nur die darüber bestimmen dürfen, wie Waren produziert werden, die Produktionsmittel, also zum Beispiel Firmen, Kapital und ähnliches besitzen und nicht alle Menschen.
Das Ergebnis ist, dass nicht für die Bedürfnisse aller Menschen produziert wird, sondern um mehr Profit zu machen. Der allergrößte Teil der Menschen wird dabei von den produzierten Waren gewaltsam ausgeschlossen. Sie können ihre Bedürfnisse nur dann befriedigen, wenn sie täglich für ein bisschen Lohn arbeiten gehen. Um das zu ändern, um eine Gesellschaft zu erreichen, in der für die Bedürfnisse aller produziert wird, wäre eine grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse, in denen wir leben, notwendig. Dies widerspricht aber den Zwecken des Staates und dem Prinzip der parlamentarischen Wahlen, wie ein Blick in das Grundgesetz zeigt.
Eine wirkliche Alternative kann also gar nicht auf den Wahlzetteln stehen.
Es wird bei parlamentarischen Wahlen nur darüber abgestimmt, wer den Staat lenken soll. Sein Zweck steht schon lange fest. Die Frage nach dem „wie“ ergibt sich dabei nicht. Wer wählen geht, die*der gibt mit dem Abgeben ihrer*seiner Stimme also die Zustimmung zu den Verhältnissen und dem Regiertwerden!
Wenn du nicht wählst, dann kommen die Rechten ins Parlament.
Ganz falsch ist das rein theoretisch nicht. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass rechte Parteien Sitze im Parlament bekommen (und dadurch auch Zugang zu Geldern, Infrastruktur etc.) wenn sie es schaffen, ihre Wähler*innenschaft bei einer geringen Wahlbeteiligung erfolgreich zu mobilisieren, als wenn viele Menschen wählen gehen und die Rechten dadurch prozentual weniger Stimmenanteil erhalten.
Doch sollten wir deshalb unsere Stimme hergeben? Was ist denn da die Alternative?
Das oben genannte Argument kommt besonders häufig aus der bürgerlichen Mitte. Es ist, ähnlich wie das erste Argument, ein moralisches Druckmittel. Die bürgerlichen Parteien können sich so als zum Beispiel antirassistisch inszenieren, indem sie auf die Parteien weiter rechts verweisen und sich von diesen distanzieren. Doch die Normalität unter der Regierung von CDU, SPD, Grünen etc. ist schon unerträglich genug. Im Namen aller Parteien, auch vermeintlich „antirassistischer“ Parteien, werden täglich Abschiebungen vollzogen, die Asylpolitik verschärft und die Grenzen Europas weiter aufgerüstet. Die Folge ihrer Politik ist der massenhafte Tod von Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer in ein vermeintlich sicheres Europa zu gelangen. Diese Beispiele, es sind nur wenige von zahlreichen anderen, die den menschenverachtenden und täglich mörderischen Charakter dieser Verhältnisse unterstreichen, sie sind nicht bloß Skandal, kein Exzess sondern die Normalität. Dafür stehen auch die Parteien, die am 10. Mai wieder zur Wahl antreten werden. Die Zustimmung zu ihrer Politik durch ein Kreuz ist auch die Zustimmung zu dieser brutalen Normalität.
Die Alternative für Deutschland (AfD) und die Bürger in Wut (BiW) wollen diese Normalität noch verschlimmern.
Der Kampf gegen sie kann aber nicht im Parlament gewonnen werden. Wir müssen ihnen u.a. auf der Straße entgegentreten. Das Problem sind nicht die Menschen, die gar nicht wählen gehen, sondern die Menschen, die bewusst AfD und BiW wählen.
Aber Demokratie ist doch die beste Regierungsform?
Die Demokratie wird häufig als alternativlos dargestellt: Alles was nicht Demokratie ist, ist Diktatur. Doch was unterscheidet die Demokratie von der Diktatur? Armut, Hunger und Krieg gibt es in demokratischen Staaten genauso wie in Diktaturen, das kann es also nicht sein. Demokratie unterscheidet sich dadurch, dass in ihr die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, durch die hier beschriebenen Wahlen. Dennoch gibt es auch hier viel Elend und wohl niemand, nicht einmal die Politiker*innen würde sagen, dass es nicht besser ginge. Der Lob und die Alternativlosigkeit kommt durch direkte Vergleiche der Demokratie mit anderen Herrschaftsformen, die es in der Geschichte bereits so gab. Und das mag sogar stimmen, im Gegensatz zu vielen Diktaturen haben wir in einem bürgerlichen Staat mehr Freiheiten. Die Frage, warum es denn überhaupt eine scheinbare Notwendigkeit nach Herrschaft geben müsse, also warum Menschen das Recht haben, über andere entscheiden zu dürfen, diese Frage wird jedoch gar nicht erst gestellt.
Es gibt genügend Gründe, über diese Verhältnisse zu meckern.
Wahlen sind aber nicht der richtige Weg diese Unzufriedenheit auszudrücken. Im Gegenteil sind Wahlen die Zustimmung zu einer Politik, die die Probleme mitverantwortet und dafür sorgt, dass Armut, Ausbeutung und Ausgrenzung auch weiterhin organisiert werden können.
Die Alternative dagegen ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft, in der für die Menschen produziert wird. Eine Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Patriarchat. In der wir alle Teil der Entscheidungen sind und nicht mehr nur unsere Zustimmung dazu geben, regiert zu werden. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte die Selbstorganisation in allen gesellschaftlichen Bereichen gegen diese Gesellschaft sein. Beispiele hierfür sind feministische Gruppen, Organisationen von von Rassismus Betroffenen oder antikapitalistische Gewerkschaften.
Wir benutzen unseren Texten die Schreibweise des „gender-Sternchen“: Dabei wird die weibliche und männliche Form von Wörtern mit einem Sternchen verbunden, also z.B. Leser*in oder Schüler*in. Die Absicht dahinter ist, durch den Zwischenraum einen Hinweis auf diejenigen Menschen zu geben, welche nicht in das ausschließliche Frau/Mann-Schema hineinpassen (wollen), wie Transgender oder Intersexuelle.
Wir hoffen, dass sich so alle Lesenden von uns angesprochen fühlen.
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