„Mörderischer Rechtsstaat“ (2012)

Re­de­bei­trag der Ba­sis­grup­pe An­ti­fa­schis­mus (BA) auf der Kund­ge­bung „Gegen jede Re­pres­si­on“ am 20.​Juli 2012 auf dem Zie­gen­markt, Bre­men.

Der Tod von Carlo Gi­ulia­ni ist jetzt elf Jahre her. Seine Er­mor­dung durch Bul­len in Genua war ein Vor­gang der viele die ihn da­mals er­leb­ten, schock­te, wü­tend und fas­sungs­los mach­te. Er zeig­te, dass diese ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se, voll­kom­men un­ab­hän­gig ob sie ge­ra­de de­mo­kra­tisch ver­fasst sind oder nicht, sich auch mör­de­ri­scher Mit­tel be­die­nen um sich zu schüt­zen.
Die Be­schäf­ti­gung mit Car­los Tod darf, ge­ra­de auf Grund der Un­er­träg­lich­keit sei­ner Er­mor­dung, nicht in Hel­den­kult oder Ver­klä­rung mün­den. Sie muss viel­mehr, un­se­rer Auf­fas­sung nach, An­lass sein, sich mit den Um­stän­den und Grün­den sei­ner Er­mor­dung zu be­schäf­ti­gen. Dabei mei­nen wir damit nicht die kri­mi­na­lis­ti­sche Ebene, son­dern die der ge­sell­schaft­li­chen Ur­sa­chen und Grün­de. Damit wir diese eines Tages ab­schaf­fen kön­nen.

Car­los Tod ist ein trau­ri­ges aber deut­li­ches Bei­spiel dafür, wie weit ein Staat geht, um “Recht und Ord­nung” auf­recht­zu­er­hal­ten. Wenn nötig auch mit kon­se­quen­tes­ter Ge­walt. In sei­nem Selbst­ver­ständ­nis be­greift sich der de­mo­kra­ti­sche Staat dabei als ein ei­gent­lich fried­li­cher Laden. Seine Staats­form wird als beste Form an­ge­se­hen, das ge­sell­schaft­li­che Leben aller zu or­ga­ni­sie­ren. Seine Ge­set­ze sol­len den so­zia­len Frie­den ga­ran­tie­ren und seine In­stan­zen (die Po­li­zei, die Jus­tiz) dort ein­schrei­ten, wo nicht im Sinne die­ses sog. de­mo­kra­ti­schen Frie­dens ge­han­delt wird. Allen Staats­bür­ger*innen wird das Recht auf Frei­heit und Gleich­heit zu­ge­spro­chen, zu­sätz­li­che Zu­cker­per­len wie die “Mei­nungs­frei­heit” und die Mög­lich­keit des Wäh­lens ir­gend­wel­cher Par­tei­en ver­sü­ßen den de­mo­kra­ti­schen Ku­chen.
Dass hier sich aber nur eine Il­lu­si­on von Selbst­be­stim­mung, die bür­ger­li­che Frei­heit, im Spek­ta­kel selbst in­sze­niert, ver­deckt der ganze frei­heit­lich-​de­mo­kra­ti­sche Zir­kus.

Vor sei­nem Recht sind all seine Staats­bür­ger*innen gleich – und damit un­gleich.
Denn auch das Pri­vat­ei­gen­tum setzt der Staat so durch und ge­währ­leis­tet es. So ver­pflich­tet er all die, die in die­ser Ge­sell­schaft ein­sit­zen müs­sen, auf das Pri­vat­ei­gen­tum als Mit­tel zur Durch­set­zung ihrer In­ter­es­sen. Für die Mehr­zahl der Leute be­deu­tet dies in Folge, weil sie nichts an­de­res als ihre Ar­beits­kraft be­sit­zen, dass sie für ein biss­chen Lohn bei denen schuf­ten und bu­ckeln müs­sen, die Ei­gen­tum in Form von Ka­pi­tal be­sit­zen. Ob­wohl alle Leute also ganz un­ter­schied­li­che ma­te­ri­el­le Stel­lun­gen in die­ser Ge­sell­schaft haben, wer­den sie vor dem Ge­setz aber for­mal gleich be­han­delt. So­wohl Rei­che als auch Arme dür­fen gleich Kauf­ver­trä­ge und Ar­beits­ver­trä­ge mit­ein­an­der ab­schlie­ßen. Sämt­li­che Staats­bür­ger*innen dür­fen nicht auf der Stra­ße schla­fen, egal ob sie sich eine Woh­nung leis­ten kön­nen oder nicht. Weder Rei­che noch Arme dür­fen Essen klau­en, alle Rei­chen und alle Armen dür­fen das Brot aber zum sel­ben Preis kau­fen. So füh­ren diese ma­te­ri­el­len Un­gleich­hei­ten, bei gleich­zei­ti­ger Gleich­be­hand­lung, immer zu un­ter­schied­li­chen Nut­zen bzw. Leid. Im Vor­teil blei­ben aber immer die, die auch öko­no­misch im Vor­teil sind und die Gleich­heit vor Recht und Ge­setz sorgt dafür, dass es auch ge­fäl­ligst so bleibt.

So ge­währ­leis­tet der Staat eine Klas­sen­ge­sell­schaft und damit in Folge auch einen Klas­sen­wi­der­spruch. Denn Be­sit­zen­de und Be­sitz­lo­se leben zwangs­wei­se in In­ter­es­sens­ge­gen­sät­zen mit­ein­an­der. Die einen wol­len so viel Lohn, die an­de­ren so viel Pro­fit wie mög­lich aus der Ar­beits­kraft der an­de­ren. Damit nicht genug, kon­kur­rie­ren die ein­zel­nen In­sass*innen der Klas­sen auch noch un­ter­ein­an­der um Ar­beits­plät­ze und Pro­fit­mög­lich­kei­ten. Die Ver­fol­gung des ei­ge­nen Nut­zens im Ka­pi­ta­lis­mus hat so immer einen Scha­den für an­de­re zur Folge. Damit das nicht aus­ufert be­darf es einer In­stanz, die die­sen Kampf “aller gegen alle” be­grenzt, weil sonst der ganze Laden von sich aus aus­ein­an­der­flie­gen würde. Diese In­stanz ist der Staat.
Sei­nen Staats­zweck ver­fol­gend, näm­lich sich selbst als ide­eler, na­tio­na­ler Ge­samt­ka­pi­ta­list gegen die Kon­kur­renz der an­de­ren Staa­ten durch­set­zend, lebt er von den Steu­ern sei­ner Staats­bür­ger*innen, die sich wie­der­um aus ihrer ei­ge­nen oder aus der Aus­beu­tung an­de­rer, er­ge­ben.

Der Staat ver­wal­tet und or­ga­ni­siert die Be­din­gun­gen die­ser Aus­beu­tung. Er schafft die Re­geln an die sich alle hal­ten müs­sen und setzt sie mit­tels sei­nes Ge­walt­mo­no­pols durch. Kon­kur­renz ja – aber unter der grund­sätz­li­chen Ach­tung des Pri­vat­ei­gen­tums und der Per­son an­de­rer. Seine ge­walt­sa­me Grund­ord­nung, die all seine Staats­bür­ger*innen zwangs­läu­fig in Kon­kur­renz zu an­de­ren setzt, dient so gleich­zei­tig der Or­ga­ni­sie­rung des mög­lichst rei­bungs­lo­sen Funk­tio­nie­rens die­ser Kon­kur­renz. Er selbst ist die al­lei­ni­ge In­stanz, die dort ein­schrei­ten, also Ge­walt an­wen­den darf, wo jene Grund­ord­nung nicht ge­wahrt wird.

Ge­la­belt wird das dann als Maß­nah­me des Staa­tes gegen in­ne­re und äu­ße­re Fein­de, zum Schutz aller Staats­bür­ger*innen zum Er­halt des sog. so­zia­len Frie­dens. Das was hier mit allen Mit­teln ge­schützt wird, ist aber die Herr­schaft der ka­pi­ta­lis­ti­schen Kon­kur­renz aller gegen alle. Denn so “frei” und fried­lich wie die Staats­bür­ger*innen auch un­ter­ein­an­der leben sol­len: Ver­sucht sich je­mand gegen diese ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se auf­zu­leh­nen oder ihre Ord­nung zu miss­ach­ten, ist es ganz schnell vor­bei mit alle dem. So ist es ei­gent­lich auch nichts neues, ohne dies mit Car­los Er­mor­dung gleich­set­zen zu wol­len, dass z.B. La­den­dieb­stahl straf­bar ist, oder dass Leute auf Demos nie­der­ge­knüp­pelt wer­den. Das Recht auf kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit ist da dann ganz schnell nach­ran­gig. So wird deut­lich: All die Bul­len­ge­walt, die Knäs­te sind kein Un­fall oder Will­kür, die z. B. nur von ein­zel­nen Po­li­ti­ker*innen ab­hängt. Im Ge­gen­teil, ohne sie ist der Ka­pi­ta­lis­mus nicht zu haben und so­lan­ge der be­steht wird es auch Re­pres­si­on geben. Die Be­schwer­de über be­son­ders „un­ver­hält­nis­mä­ßi­ge“ Po­li­zei­ge­walt wie sie nach Demos und Ak­tio­nen gerne immer wie­der er­ho­ben wird, geht des­we­gen auch da­ne­ben: Wer den Bul­len­staat wirk­lich „zum Kot­zen“ satt hat, muss er­ken­nen, dass die Be­din­gun­gen unter denen er her­ge­stellt wird, die der de­mo­kra­tisch-​ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­sell­schaft sind.
Nicht erst seid Car­los Tod ist für uns des­halb der Schluss aus alle dem:
Uns geht es nicht in ers­ter Linie um die Ein­for­de­rung un­se­rer Rech­te von und in die­ser Ge­sell­schaft. Wir wol­len Ka­pi­tal und Lohnar­beit, den Staat und seine ganze mör­de­ri­sche Rechts­ord­nung ab­schaf­fen! Denn wirk­li­che Frei­heit und Gleich­heit für alle sind im Ka­pi­ta­lis­mus nicht zu haben. Gegen die Ge­walt des Staa­tes schützt uns am bes­ten eine star­ke, links­ra­di­ka­le Be­we­gung!

Car­los Mör­der ist der Staat – die Ur­sa­che ist der Ka­pi­ta­lis­mus – es geht ums Ganze!